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„Junge Welt“ vom 27.03.2021
Sonntag, der 26. März, ist ein Tag der Erneuerung. Paris atmet auf, als sei es einer großen Gefahr entgangen. Das Volk empfindet keinen Zorn mehr, denn es fürchtet nicht mehr. Der Stimmzettel hat das Chassepot (nach seinem Entwickler Antoine Chassepot benanntes Standardgewehr der französischen Armee, jW) verdrängt.
Das Zentralkomitee (der Nationalgarde, das am 18. März 1871 die Macht in Paris übernahm, jW) hatte bestimmt, dass auf je 20.000 Einwohner und auf den Rest von je 10.000 ein Vertreter kommen sollte, im ganzen 90. Die Wahlen sollten nach den Wählerlisten vom Februar 1871 vorgenommen werden. Das Zentralkomitee hatte nur seine Meinung ausgesprochen, dass in Zukunft öffentlich abgestimmt werden solle, weil das dem demokratischen Prinzip am besten entspreche. Die Vorstädte hatten das angenommen, die Wähler von Saint-Antoine (Pariser Vorstadt außerhalb der alten Festungsmauern, jW) rückten im Zuge an, den Stimmzettel offen am Hute, sie zogen an der Bastille vorbei und kehrten in gleicher Ordnung nach ihren Sektionen zurück.
287.000 Wähler stimmten ab. Verhältnismäßig viel mehr als bei den Februarwahlen. Herr (Adolphe) Thiers (1797–1877, war nach den Wahlen vom 8. Februar von der Nationalversammlung zum »Chef der Exekutive« gewählt worden, jW) aber telegraphierte: »Die Wahlbeteiligung ist gering, weil die Freunde der Ordnung nicht stimmen.« Es ist die Abstimmung eines freien Volkes, das weder von der Polizei noch von Intrigen beeinflusst ist. »Die Wahlen gehen heute in voller Unfreiheit vor sich«, telegraphierte Herr Thiers weiter. Die Freiheit war so absolut, dass viele Gegner des Zentralkomitees gewählt wurden, andere starke Minderheiten erzielten – Louis Blanc (1811–1882, utopischer Sozialist und Begründer der Sozialdemokratie in Frankreich, Gegner der Kommune, jW) bekam 5.600, (Joseph) Vautrain (1818–1881, Bürgermeister des 4. Arrondissement, Gegner der Kommune, jW) 5.133 Stimmen usw. –, und dass es keinen einzigen Wahlprotest gab.
Am anderen Tage zogen 200.000 von den »Elenden«, wie Thiers die Pariser Volksmassen nannte, nach dem Stadthause, um ihre Erwählten dort einzuführen. Mit klingendem Spiel, die phrygische Mütze (von den Jakobinern in der Revolution von 1789 getragen: Sie meinten irrigerweise, die Mütze hätten in der Antike freigelassene Sklaven getragen, jW) auf der Fahnenspitze, rote Bänder am Gewehr, marschierten die Bataillone, aufgefüllt von Soldaten der Linie, Artilleristen und Matrosen, die Paris treu geblieben waren, durch alle Straßen nach der Place de Grève. Mitten vor dem Stadthause ist eine große Tribüne gebaut, gekrönt von der Büste der Republik, die mit roter Schärpe geschmückt ist. Hundert Bataillone marschieren auf, die Sonne spiegelt sich in ihren Bajonetten. Die keinen Zugang zum Platz fanden, erfüllen die Quais, die Rue de Rivoli und den Boulevard de Sépastopol. Vor der Estrade sammeln sich die Fahnen, die meisten rot, andere dreifarbig. Lieder erschallen, die Marseillaise und der Abschiedsmarsch, die Trompeten schmettern, und die Kanone der Kommune von 1792 (aufständische Kommune in Paris 1792–1794, jW) donnert am Quai.
Die Mitglieder des Zentralkomitees und der Kommune mit roter Schärpe erscheinen auf der Tribüne. (Gabriel) Ranvier (1828–1879, Porzellanmaler, kämpfte bis zum letzten Tag der Kommune bewaffnet, dann Exil in England, jW) spricht: »Das Zentralkomitee legt seine Vollmachten in die Hände der Kommune. Bürger, mein Herz ist von solcher Freude erfüllt, dass ich keine Rede halten kann. Erlaubt mir nur, den Ruhm des Pariser Volkes zu verkünden um des großen Beispiels willen, das es der Welt gibt.«
Ein Mitglied des Zentralkomitees proklamiert die Gewählten. Man will keine weiteren Reden, kaum, dass Ranvier in einer Pause den Ruf ausstoßen kann: »Im Namen des Volkes, die Kommune ist proklamiert!« Ein einziger Schrei antwortet: »Es lebe die Kommune!« Die Mützen tanzen auf den Bajonettspitzen, die Fahnen flattern, aus den Fenstern, von den Dächern winken Tausende von Tüchern. Kanonenschläge, Musik, Fanfaren, Trommeln. Die Herzen schlagen hoch, in den Augen glänzen Tränen. Niemals seit dem Föderationsfest von 1790 (gefeiert am ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille vom 14. Juli 1789, jW) ist Paris im Innersten so erschüttert worden.
Bestürzt kehrten die Agenten des Herrn Thiers zurück: »Ganz Paris war dabei!« (…) Die Blinden hätte dieser Blitzstrahl erleuchtet. 287.000 Wähler, die alle in denselben Ruf einstimmten, das beweist, dass hier nicht ein geheimnisvolles Komitee, eine Handvoll Verschwörer und Banditen am Werk sind, wie man seit zehn Tagen (seit dem 18. März, jW) erzählt. Hier ist eine gewaltige Kraft im Dienste der einen Idee: kommunale Autonomie.
(Prosper-Olivier) Lissagaray: Der Pariser Kommune-Aufstand. Soziologische Verlagsanstalt, Berlin 1931, Seiten 155–157
Ein Kommentar zu „Ein Blitzstrahl“