

Foto: imago images/imagebroker, entnommen aus „Junge Welt“
Arbeiter und Angestellte organisierten 1871 die Verwaltung von Paris und sicherten den Alltag. Auszug aus Lissagarays Geschichte des Aufstandes
„Junge Welt“ 30.04.2021
Die „Verbrechen“ der Pariser Kommune
Am 20. April hatte die Kommune beschlossen, das Exekutivkomitee durch die Delegierten der neun Komitees zu ersetzen, die sich in die Verwaltung teilten. Diese Komitees waren sehr vernachlässigt worden. Wie sollte man auch den täglichen Sitzungen im Stadthause, im Komitee und der Mairie des Bezirks genügen – die Kommune hatte ihre Mitglieder nämlich noch mit der Verwaltung ihrer Bezirke betraut. (…)
Zwei dieser Delegationen verlangten nur den nötigen guten Willen: die Verpflegung und die öffentlichen Arbeiten. Die Verpflegung der Stadt geschah durch die neutrale Zone, wo Herr Thiers, der Paris aushungern wollte, das Angebot von Lebensmitteln nicht verhindern konnte. Die öffentlichen Arbeiten litten nicht allzu stark. Vier Delegationen: Finanzen, Krieg, öffentliche Sicherheit und Auswärtiges verlangten besondere Fähigkeiten. Drei Delegationen sollten das Wesen der Revolution zum Ausdruck bringen: Unterricht, Justiz und Arbeit und Handel. Alle Delegierten, bis auf den Goldarbeiter Leo Frankel (1844–1896, Mitglied der I. Internationale, enger Freund der Familie Marx, 1889
Mitbegründer der II. Internationale, jW) waren Gebildete aus dem Kleinbürgertum. (…)
Das erste Problem eines jeden Tages war, etwa 350.000 Menschen zu ernähren. Von 600.000 Arbeitern, die in Paris 1870 bis 1871 lebten, waren nur 114.000 beschäftigt, davon 62.500 Frauen. Es mussten die verschiedensten Ämter mit Geldmitteln versehen werden. (…) Es gab zwar die unerhört reiche Bank von Frankreich, aber man fürchtete sich, sie anzutasten. Man war also auf die Verwaltungseinnahmen: Telegraph, Post, Verbrauchsabgaben, direkte Steuern, Zölle, Marktgelder, Tabaksteuer, Stempel, Bezirkseinnahmen und Eisenbahnen angewiesen. Die Bank von Frankreich rückte nach und die 9.400.000 Franken heraus, die der Stadt gehörten, und schoss außerdem mit Erlaubnis des Herrn (Adolphe) Thiers (1797–1877, seit Februar 1871 in Versailles »Chef der Exekutive«, jW) 7.290.000 Franken vor. Vom 20. März bis 30. April nahm die Kommune auf diese Weise 26 Millionen ein. In dieser Zeit verbrauchte das Kriegskomitee mehr als 20 Millionen. Das Zentralkomitee und die Kommune zusammen verbrauchten in neun Wochen etwas mehr als 46.300.000 Franken, wovon 16.696.000 Franken von der Bank und der Rest von den Gemeindeämtern abgehoben wurden. Die Verbrauchsabgabe steuerte ungefähr zwölf Millionen bei. Während die Kommune nur gerade soviel bekam, um nicht zu verhungern, löste die Bank von Frankreich Tratten (Wechsel, jW) im Werte von 25.763.000 Franken ein, die Versailles auf sie zog, um Paris zu bekämpfen.
Die Ämter wurden von Arbeitern oder unteren Angestellten geleitet. Überall begnügte man sich mit einem Viertel der üblichen Beamtenzahl. Der Graveur (Albert-Frédéric-Jules) Theisz (1839–1881, Proudhonist, Mitglied der I. Internationale, jW) fand als Postdirektor das Amt desorganisiert, die Bezirkspostämter geschlossen, die Marken verborgen oder verschleppt, das Material, Stempel, Wagen usw. beiseite gebracht, die Kasse ausgeplündert. Theisz handelte schnell und energisch. Als die unteren Angestellten ankamen, um sich für die Abreise fertigzumachen, hielt er ihnen eine Rede und gewann sie langsam. Einige sozialistische Angestellte halfen ihm. Mittlere Angestellte übernahmen die Leitung der Ämter, die Bezirksämter wurden eröffnet, und in 48 Stunden war die Briefverteilung über Paris reorganisiert. (…) Ein Rat wurde eingesetzt, der die Gehälter der Briefträger, Büroarbeiter, Postillione erhöhte, die hohen Gehälter herabsetzte und bestimmte, dass die Befähigung der Arbeiter künftig durch Prüfungen festgestellt werden solle. (…)
Die öffentliche Wohlfahrtspflege hing ebenfalls vom Finanzamt ab. Ein sehr verdienter Mann, der ehemalige (1851, jW) Verbannte (Camille) Treilhard (1810–1871, jW), reorganisierte diese Verwaltung. Die Ärzte und das Dienstpersonal hatten die Krankenhäuser verlassen. Der Direktor und der Verwalter des Spitals Petits-Ménages waren geflohen und hatten die Insassen dem Bettel überliefert. Die Angestellten ließen die verwundeten Kommunekämpfer vor den Krankenhäusern warten. Ärzte und Schwestern beschimpften sie. Treilhard hat hier Ordnung geschafft. Wie 1792 war die Verwaltung der hilfreiche Freund der Kranken und Leidenden, und sie priesen die Kommune, die sie wie eine Mutter behandelte.
Die andren Ämter, die den Finanzen angegliedert wurden und die sonst der hohen Bourgeoisie vorbehalten waren, wurden mit Geschick und Sparsamkeit – das Maximalgehalt von 6.000 Franken wurde nirgends erreicht – von Leuten geleitet, die nicht zur Kaste gehörten, und das war in den Augen der Versailler Bourgeoisie nicht das geringste der Verbrechen der Kommune.
Prosper-Olivier Lissagaray: Histoire de la Commune de 1871, Brüssel 1876. Hier zitiert nach: Lissagaray: Der Pariser Kommune-Aufstand. Soziologische Verlagsanstalt, Berlin 1931, Seiten 220–223
Ein Kommentar zu „Die „Verbrechen“ der Pariser Kommune“